Zusammenfassung
Übergewicht ist definiert als eine abnormale Fettakkumulierung, welche die Gesundheit beeinträchtigen kann. Was sind die Gründe für diese Fettakkumulierung? Die Ernährung der Kinder enthält einerseits zu viele leere Kalorien und nicht genügend Ballaststoffe. Andererseits werden die überschüssigen Kalorien und somit die freigesetzte Energie nicht ausreichend verbraucht. Der Körper speichert jede Extra-Kalorie für die sogenannten «schlechten Zeiten». Dieses Speicherprinzip beginnt bereits nach der Geburt. Die Fettzellen im Kleinkindesalter (2 bis 6 Jahre) lernen so schon früh, welche Menge als Vorrat und somit wie viel Fett der Körper speichern kann. Die Zellen erhalten so schon am Lebensanfang eine Vorgabe bzw. einen Sollwert. Der Körper möchte diesen Wert für den Rest des Lebens immer wieder erreichen. Grundlage dieses Phänomens ist die Überernährung bzw. die Fehlernährung mit zuckerhaltigen und fettigen Lebensmitteln wie Süssigkeiten, Fast Food etc.
Auf der anderen Seite kommen die Körperzellen durch die zu vielen aufgenommen Kohlenhydrate an ihre Grenze. Mit jeder Aufnahme von Kohlenhydraten gelangt Glucose in die Blutbahn. In diesem Moment schüttet der Körper für die Regelung des Blutzuckerspiegels Insulin aus. Die Glucose wird somit in den Muskel-, Leber- und Fettzellen gespeichert und dient als Energielieferant. Durch die übermässige Ernährung von ungesunden Lebensmitteln muss der Körper dauernd Insulin ausschütten. Mit der Zeit werden die Insulinrezeptoren überstrapaziert und blockiert und eine Insulinresistenz kann entstehen.
Mit einer richtigen Ernährung bereits am Anfang kann jedoch Gegensteuer gegeben werden, da das Mikrobiom erst im Alter von drei Jahren in der Vielfalt und der Komplexität voll ausgebildet ist. Neben dem Verzicht auf eine zucker- und fetthaltige Ernährung sollten vor allem Lebensmittel mit einem hohen Ballaststoffgehalt zu sich genommen werden. Diese Ballaststoffe sind gut für den Aufbau einer gesunden Darmflora bzw. eines gesunden Mikrobioms.
Die Forschung zeigt auch auf, dass bereits bei Kindern Unterschiede im Mikrobiom zwischen normalgewichtigen und übergewichtigen Kindern bestehen. Es gilt daher umso mehr, schon im Kleinkindalter auf eine gesunde Ernährung zu achten.
Interview
Prof. Dr. Holger Till, Universitätsspital Leipzig und Integrated Research and Treatment Center Adiposity Diseases, Universität Leipzig.
HOCHDODRF: Übergewichtige Kinder sind kein neues Thema. Was aber ist in den letzten 10 Jahren neu?
Prof. Dr. Holger Till: Die weltweite Epidemie der Fettleibigkeit (Adipositas) betrifft seit vielen Jahren nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche. Deren Steigerungsraten scheinen in Ländern wie China und dem Nahen Osten förmlich zu explodieren, ohne dass die Vorsorge (Prävention) derzeit eine adäquate Lösung anbieten kann. Damit wird die «morbide» Adipositas zum medizinischen und gesundheitsökonomischen Problem Nummer 1 in vielen Gesellschaften. Vergleichbar den Erwachsenen drohen auch adipösen Kindern und Jugendlichen schwerwiegende Begleiterkrankungen wie Blutzuckerschwankungen bis hin zum manifesten Typ-2-Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Fettleber oder Bluthochdruck.
Ist die Ursache vererbbar (Gene) oder spielt das Umfeld der Kinder (Eltern mit Adipositas) eine Rolle?
Prof. Dr. Holger Till: Natürlich gibt es seltene, genetisch-bedingte Fettstoffwechselstörungen, die zu einer morbiden Adipositas führen. Am bekanntesten ist der monogen vererbte Leptinmangel. Bei den allermeisten Patienten aber ist die Ursache eine Über- und Fehlernährung, d.h. es werden zu viele Kalorien mit der Nahrung aufgenommen und diese Energie wird nicht ausreichend durch körperliche Aktivitäten verbraucht. Jede Kalorie extra speichert der Körper «für schlechte Zeiten». Bei Ess- und Verhaltensgewohnheiten spielen natürlich die Familie und das soziale Umfeld eine wichtige Rolle.
Und wie entsteht Adipositas bei Kindern?
Prof. Dr. Holger Till: Das o.g. Speicherprinzip beginnt schon unmittelbar nach der Geburt und wird vor allem im Kleinkindesalter (zwischen 2 bis 6 Jahren) ausgebaut, d.h. dass die Fettleibigkeit bereits bei Kleinkindern beginnen und determiniert werden kann. In diesem Alter lernen die Fettgewebszellen, welchen Vorrat der Körper haben könnte und wie viel Fette sie speichern sollten. Diesen Sollwert will der Körper für den Rest des Lebens immer wieder erreichen, auch wenn man versucht, das Gewicht zu reduzieren.
Was sind die grundlegenden Ursachen und wichtigsten Fakten für dieses Phänomen?
Prof. Dr. Holger Till: Überernährung und Fehlernährung sind oftmals Zeichen einer Wohlstandsgesellschaft mit einem generellen Überangebot von Nahrung (Kalorien) und einem luxuriösen, kalorienreichen Nahrungskorb (Süssigkeiten, Fast Food etc.). Diese Situation haben wir in vielen europäischen und amerikanischen Ländern seit dem Ende des 2. Weltkriegs und in Asien bzw. den MENA Staaten (Mittlerer Osten, Nordafrika) seit ca. einer Dekade. Meist sind die Säuglinge, so lange sie mit hochwertiger, gesunder Milchnahrung versorgt sind, noch nicht betroffen. Sobald sie aber von den Eltern mit Schokoladenriegeln und Gummibärchen, fettreiche Speisen oder zuckerhaltigen Getränken verwöhnt werden, beginnt das Ungleichgewicht zwischen übermässiger Energieaufnahme und unzureichendem Energieverbrauch. Denn der Lebensstil in solchen Wohlstandsgesellschaften zeichnet sich häufig durch geringe körperliche Bewegung und zu vielem Sitzen, Rasten oder «Chillen» aus. Wieder haben die Eltern und Geschwister auch hier eine wichtige Vorbildfunktion.
Als Folge davon tritt Diabetes immer häufiger auch bereits bei Kindern auf. Eine mögliche Ursache dazu ist die Insulinresistenz. Wie entsteht eine solche Resistenz?
Prof. Dr. Holger Till: Kohlenhydrate aus der Nahrung werden im Dünndarm in Glucose gespalten und über die Darmwandbarriere aufgenommen und gelangen so in die Blutbahn. Bei der Verdauung spielen nicht nur die Enzyme, sondern auch die Darmbakterien eine wichtige Rolle. Wir werden später darauf zurückkommen. Je mehr Kohlenhydrate gegessen wurden, desto mehr Glucose gelangt in die Blutbahn. Der Körper reagiert darauf mit einem sehr fein abgestimmten und konsequenten Regelsystem aus Hormonen. Er schüttet in diesem Moment Insulin aus, so dass die Glucose in die Muskel-, Leber- und Fettzellen gespeichert wird. Wenn allerdings zu oft und zu viele Kohlenhydrate aufgenommen werden, kommen die Fähigkeiten der Körperzellen an ihre Grenzen, die Insulinrezeptoren sind blockiert, so dass Insulin dort (peripher) weniger wirkt (periphere Insulinresistenz) und schlimmstenfalls der Blutzuckerspiegel über der Norm erhöht bleibt (Diabetes mellitus).
Was können wir dagegen unternehmen? Was ist in der Ernährung wichtig?
Prof. Dr. Holger Till: Es gibt unzählige Ernährungstipps und alle haben wichtige Komponenten. Deswegen kann an dieser Stelle nicht DIE Empfehlung gegeben werden. Wichtig erscheint aber gerade bei kleinen Kindern und Schulkindern der Hinweis, dass eine regelmässige und übermässige Ernährung mit zucker- und fetthaltigen Lebensmitteln zur Adipositas und möglichen Folgeerkrankungen führen kann. Wenn also Snacks zur Belohnung gehören, dann sollten es eher «gesunde» Kindersnacks sein (Obst, Trockenobst, Weizenprodukte), statt Schokoriegel und Gummibärchen. Ferner sind Ballaststoffe in der Ernährung wichtig, weil sie nicht nur weniger Kalorien enthalten, sondern auch dem Aufbau einer gesunden Darmflora dienen.
Eine weitere wichtige Erkenntnis in der Forschung ist das unterschiedliche intestinale Mikrobiom einer normal gewichtigen Person zu einer übergewichtigen Person.
Welches sind die Unterschiede des intestinalen Mikrobioms? Woher kommen die Unterschiede? Und wie verhindert man diesen Unterschied?
Prof. Dr. Holger Till: Als gastrointestinales Mikrobiom bezeichnet man die Vielzahl der im Darm lebenden Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Pilze etc.). Seitdem das menschliche Mikrobiom mittels neuester Gensequenzierungstechniken entschlüsselt wurde (ab 2007), sind auch die unterschiedlichen Funktionen oder Fehlfunktionen des Mikrobioms bekannter geworden. So spielt das Mikrobiom des Darms ab dem ersten Lebenstag eine wesentliche Rolle beim Aufbau des Immunsystems, der Stabilisierung der Darmwandbarriere gegen Schädlinge und natürlich bei der Aufschlüsselung der Nahrungsbestandteile. Wichtig war die Erkenntnis, dass die Entwicklung der Darmmikrobiota ca. bis zum dritten Lebensjahr dauert, d.h. bis das Darmmikrobiota dieselbe Vielfalt und Komplexität wie jene eines Erwachsenen besitzt. Dabei liefert die Ernährung entscheidende Faktoren. Umgekehrt könnte jedes Ungleichgewicht in der kindlichen Ernährung also zu einem lebenslangen Ungleichgewicht (Dysbiose) der Darmmikrobiota führen. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Adipositasforschung bekannt, dass das Mikrobiom nicht nur an vielen Stoffwechselprozessen wie der Synthese lebenswichtiger Vitamine oder kurzkettiger Fettsäuren (Essigsäure, Acetat) beteiligt ist, sondern eben auch an der direkten Verwertung und Aufnahme der Energien aus der Nahrung («energy harvesting»). In diesem Zusammenhang sucht die Wissenschaft intensiv nach Mechanismen, die über eine Beeinflussung des Mikrobioms zur Normalisierung des Körpergewichts beitragen können. Sicher ist aber schon heute, dass auch bei gesunden Kleinkindern eine ausgewogene Ernährung reich an Milchproteinen, Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralstoffen, aber ohne Zucker- oder Fettexzesse, zum Aufbau eines günstigen Mikrobioms im Darm und zur allgemeinen Vitalität entscheidend beiträgt.
Prof. Dr. Holger Till, ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.
Facts zu Übergewicht bei Kindern
Gemäss der WHO sind weltweit über 41 Millionen Kinder unter 5 Jahren übergewichtig und bleiben es wahrscheinlich auch im Erwachsenenalter. Zudem neigen sie bereits in jüngeren Jahren zu Diabetes und Herzkreislauf-Erkrankungen (1).
Ursachen für Adipositas und Übergewicht sind ein Ungleichgewicht zwischen Kalorieneinnahme und -verbrauch. Vor allem werden global zu viele Nahrungsmittel mit einem hohen Zucker- und Fettgehalt eingenommen. Im Gegenzug nimmt die Bewegung bzw. physische Aktivität jedes Einzelnen ab.
Die WHO empfiehlt zur Vermeidung von Übergewicht bei Kindern daher an erster Stelle, die Einnahme von gesunden Nahrungsmitteln sowie physische Aktivitäten zu fördern. Wichtig ist auch die präventive Aufklärung der Eltern, damit Kinder gar nicht erst fettleibig werden (2).
Weitere Informationen
Quellen
1) http://www.who.int/dietphysicalactivity/childhood/en/
2) WHO Report of the commission on ending childhood obesity, 2016, ISBN 978 92 4 151006
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